Luther - bis ins letzte Dorf

Chigarumamidi. Vermutlich niemand bei uns weiß, wo das liegt, geschweige denn, dass dort über Martin Luther gesprochen wird. Umgekehrt weiß in Chigurumamidi kaum jemand, wo Deutschland liegt. Trotzdem werden wir als gute Freunde mit Blumenkränzen, Tanz und Liedern überaus herzlich begrüßt. "Rerela, gepriesen sei der Herr!" schicken helle Stimmen und laute Trommeln zu den schlichten Hütten der Nachbarn im Stammesdorf und über das weite Flusstal der Godavari.

 

Wir sind in Südindien, in Andhra Pradesh. Wir besuchen die Good Shepherd ev. luth. Church, langjährige Partnerkirche der Landeskirche Hannovers und des FMD e.V. Nach diversen Krisen und Spaltungen zählt die erst 35 Jahre alte, von Einheimischen gegründete Kirche, heute 48 Gemeinden mit etwa 9.000 getauften Mitgliedern. Die meisten sind sehr arm. Sie leben in abgelegenen Dörfern und arbeiten als Kulis auf den Feldern oder haben etwas eigenes Land. Ein riesiges Staudammprojekt bedroht ihre Existenz.

 

Etwa fünfzig Christen sammeln sich in der kleinen Kirchenhütte mit Blätterdach. Sie hocken sich auf den Boden. Bunte Weihnachtsdeko mit Stern, Girlanden und flimmernden Lichterketten zieren Decke und Altar. Zeitungen und Stoffbahnen sollen vor Wind und Ungeziefer schützen, die durch die Bambusmatten dringen. Eine Mutter stillt ihr Baby, verdeckt unter dem Schal eines schlichten Baumwollsaris. Ein gebückter Mann mit wüster Bartpracht steht auf einem Stock gestützt am Ausgang. Wer hier 65 wird, ist steinalt. Es ist Winter. Während wir schwitzen, tragen einige Wollmützen. Die Frauen bedecken ihre Haare beim Gebet, ein Junge begleitet den kräftigen Gesang auf einer Bongo.

 

Dann kommt Martin Luther - wenn auch nur als Playmobil-Figur. Etwa vierzig davon schmücken inzwischen Altäre und Regale im Stammesgebiet, zwei davon auch Amarturenbretter. Ob die Reformation diese abgelegenen Dörfer wirklich erreicht hat, vermag ich nicht zu sagen. Das Evangelium von Jesus Christus ist hier ganz sicher angekommen. Es bewegt und verändert Menschen und Zusammenleben. Wir erzählen von Luther, seinem Leben, seiner Theologie und seiner Bedeutung. Viele nehmen erstmals bewusst wahr, dass sie Glieder einer lutherischen Kirche sind, wenn auch mit besonderem Profil. Persönliche Segnungen, Salbungen, Heilungserfahrungen, ekstatische Erscheinungen, Fußwaschung vor dem Abendmahl -  uns beeindruckt eine Frömmigkeit, die man bei uns eher als charismatisch beschreiben würde. Ein bisschen werden wir an die biblische Urgemeinde erinnert. Teile von Liturgie und Liedgut hat man zwar von einer lutherischen Nachbarkirche übernommen, pflegt aber eine eigene, der Stammeskultur angepasste Frömmigkeit.

Und nun erzählen wir in elf abgelegenen Dörfern von Martin Luther und der Reformation. In vier Taufgottesdiensten schwärmen wir von der "vorlaufenden Gnade Gottes" und erleben dann die Taufe von 182 Menschen mit Untertauchen im Fluss. Auf einer Konferenz mit zweihundert Jugendlichen entfalten wir die "vier Soli" lutherischer Theologie und freuen uns, dass die jungen Leute ihre Thesen zur Erneuerung ihrer Kirche an die Kirchentür kleben. Wir grüßen auf einem lutherischen Kongress, durchgeführt mit über 5.000 Teilnehmern von der AELC in Rajamundhri, aus dem "Mutterland der Reformation".

 

Gerade aus dem aktiven Dienst verabschiedet, war ich irgendwie froh, zwar an Vorbereitungen zum Reformationsjubiläum beteiligt gewesen zu sein, dem Jubeljahr mit seinen unzähligen Veranstaltungen selbst jedoch zu entkommen. Nun freue ich mich, Teil einer reformatorischen Bewegung und überraschend selbst zum Botschafter reformatorischer Impulse geworden zu sein. Unsere Partnerkirche hat sich auf den Weg einer spirituellen Erneuerung begeben, den wir ein Stück begleiten durften.

Wie "lutherisch" sich die kleine Gemeinde in Chigarumamidi zukünftig verstehen wird, bleibt abzuwarten. "Christlich" ist in Indien bereits Profil genug. Aber dies ist gewiss: Den Altar der kleinen Dorfgemeinde schmückt jetzt Luthers Playmo-Double.

Luther - angekommen im letzten Dorf.

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